1.1 Die Multimedia-Revolution hat schon begonnen

Im heutigen Lebensalltag spielen elektronische Medien eine große Rolle. Ganz ohne Radio und Audio-Kassette/CD, ohne Fernsehen und Video, ohne Telefon/Handy und Computer kann sich kaum ein Zeitgenosse mehr ein angenehmes Leben vorstellen. Noch gelingt es vielen, auf eines dieser verschiedenen Medien zu verzichten, aber die neuen elektronischen Medien drängen mit aller Macht auch in die Privatsphäre vor.

Mediengeräte, die verschiedenartige klassische Medien in sich vereinen, werden heute unter dem nicht sehr klar und eindeutig bestimmbaren Begriff als Multimedia gekennzeichnet. Zunächst betraf dies nur den Computer, der in grafischen Präsentationen Text-Darstellungen kombiniert mit Bildern bzw. Filmen und qualitativ hochwertigem Sound steuern konnte. Meist wird dabei das Speichermedium der CD-ROM oder der DVD eingesetzt. Nachdem nun auch Telefondienste, Fernsehen und Videoschnitt per Computer gesteuert werden können, kann Multimedia noch viel mehr umfassen. Im Folgenden benutze ich häufiger den Begriff der "neuen Medien" oder der "elektronischen Medien", um die ganze Vielfalt dieser verschiedenen Multimedia-Dimensionen zu charakterisieren.

Diese elektronische Medienwelt ist jedoch noch gar nicht so alt, sondern hat erst in den letzten Jahrzehnten ihren Siegeszug begonnen. Die heutige Elterngeneration kannte in ihrer Kindheit viele diese Medien noch nicht, sie hatte in ihrer Sozialisation weder Videogeräte, noch Computer oder Handys kennen gelernt. Daher werden heute von manchen Erwachsenen diese neue Medien trotz der Faszination des Neuen oft auch als Bedrohung wahrgenommen. Viele Eltern haben erst in den letzten Jahren mühsam gelernt, wie man das eine oder andere neue elektronische Gerät bedienen kann, wobei es oft die Kindern sind, die ihnen dieses Fertigkeiten vermitteln. Die heute aufwachsende Generation wurde jedoch in diese Medienwelt hineingeboren. Sie kennt diese Medienwelt von Geburt an - z.B. seit dem Videofilm vom Geburtsschrei und der beruhigenden Baby-Kassette. Die neuer Medien übten anfangs eine besondere Faszination aus und werden von vielen Erwachsenen als Bedrohung erlebt. Kinder und Jugendliche spüren diese Faszination jedoch nicht heute mehr, und eine besonders Faszination nehmen sich auch nicht mehr wahr.

Diese neuere Entwicklung ist nur Teil einer schon länger laufenden Revolution in den Medien. In den letzten Jahrzehnten sind insbesondere auf der Ebene der kommunikativen Medien neue Entwicklungen entstanden. Das klassische Medium des Buches und weitere Printmedien wie Zeitungen und Zeitschriften sind seit der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ergänzt worden durch zahlreiche auditive Medien. So wurde der Brief durch das Telefon ergänzt, zum Buch kamen auditive Tonträger wie Schallplatte und Kassette hinzu, und die Träger aktueller Information wie Zeitschriften und Zeitungen wurden um Radio und Fernsehen ergänzt (vgl. Charlton & Neumann-Braun 1992, Opaschowski 1999).

Die technischen Weiterentwicklungen der neuen Medien machen diese mehr und mehr für den privaten Interessenten attraktiv, sodass neue Medien im Lebensalltag immer mehr an Bedeutung gewinnen. Nach der Erweiterung der Programmangebote des Fernsehens (flächendeckende Verkabelung bzw. Sat-Empfang und Pay-TV) und der rasanten Verbreitung von Personal Computern im privaten Bereich kommt als neue Entwicklung das digitale Fernsehen hinzu. Computer und Fernseher gehen eine Ehe ein und stehen als Internet-Computer oder Set-Top-Box am Fernseher für interaktive Dienste aller Art (z.B. Video-on-demand, Teleshopping usw.) zur Verfügung. Diese technischen Entwicklungen haben zahlreiche Implikationen für unser soziales Leben und die individuelle psychische Entwicklung. Wenn mit neuen interaktiven TV-Computern in der Familie der digitale Zugriff auf die weite Welt möglich wird, hat dies weiterhin auch Auswirkungen auf unser Weltbild und die kommunikativen Strukturen in unserer Gesellschaft. Man kann die Tragweite dieser sozialen Veränderungen nur vergleichen mit ähnlich gravierenden früheren Entdeckungen, z.B. der Erfindung des Buchdrucks im 17. Jahrhundert oder der Einführung maschineller Produktion in den ersten Fabriken zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Wir erleben also zur Zeit eine neue industrielle Revolution. Mit dieser dritten industriellen Revolution wird sich die alltägliche Lebenswelt in der Familie radikal verändern, wobei die Euphoriker (Negroponte 1995, Papert 1996, Tapscott 1998) und die Skeptiker (vgl. Eurich 1985, Stoll 1996, Opaschowski 1999) durchaus verschiedene Ansichten über Relevanz und Ausmaß dieser Veränderungen haben.

Hinzu kommt die alte Debatte, ob Medien nur vermitteln und transportieren oder auch selbst eine Botschaft beinhalten (vgl. McLuhan 1984). Diese dichotome Fragestellung nach dem "entweder-oder" ist aber aus psychologischer Sicht irrelevant, da für die menschliche Kommunikation immer beides - Form und Inhalt - wichtig ist. Einerseits hat das Medium selbst große Auswirkungen auf die Art der menschlichen Kommunikation, andererseits gibt es ganz unabhängig von der Qualität der Medien historisch gewachsene soziale Interaktionsformen, die sich natürlich auch bestimmter Medien als Vermittler bedienen. Insofern müssen auch in der psychologischen Medienwirkungsforschung philosophisch-soziologische Überlegungen der Technikfolgenabschätzung angesprochen werden.

Die dominante Rolle des Fernsehens im Leben der heutigen Familie und daraus entstehende Probleme in der Erziehung sind in der Medienwirkungsforschung häufig untersucht worden. Im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stand dabei besonders die viel diskutierte Frage der Auswirkungen von Gewaltdarstellungen auf dem Bildschirm (vgl. Büttner 1989, Glogauer 1993, Groebel 1993, Kleiter 1993). Die Chancen und Probleme der Fernsehnutzung von Kindern, die Rolle des Fernsehens in der Familie und das unterschiedliche Fernsehkonsumverhalten in verschiedenen Familienformen sind in zahlreichen Beiträgen untersucht worden (vgl. Rogge 1990, Hurrelmann et al. 1996). Obwohl es zahlreiche Bemühungen gibt, speziell auf Kinder ausgerichtete pädagogisch wertvolle Fernsehprogramme zu entwickeln (vgl. Gottberg et al. 1997), haben diese Programme nur geringe Chancen, ihre Zielpublikum zu erreichen, da sie meistens am Nachmittag laufen. Die Gewohnheit der Mehrheit der Kinder, nachmittags lieber anderes zu machen als fernzusehen und die Faszination der auf Jugend und Erwachsene ausgerichteten "Familienprogramme" in der Haupteinschaltzeit zwischen 18 und 22 Uhr ist ein weiterer Erklärungsfaktor für den eher mäßigen Erfolg der pädagogisch motivierten Kinderprogramme.

Neben dem Fernsehen als dem nach wie vor wichtigsten Medien, das auch als das "Leitmedium der Jugend" bezeichnet wird, nehmen Beschäftigungen am Computer einen immer größeren Platz in der Alltagswelt der Familie ein. Wie Kinder und Jugendliche den Computer nutzen, ist zwar schon vielfach untersucht worden (vgl. Leu 1993, Dittler 1993, Fritz 1995, Petzold 1996, Fromme et al. 2000), aber die Rolle der dabei mitspielenden familiären Beziehungen ist kaum beachtet worden - einen ersten Ansatz stellt dazu die eigene Untersuchung dar (vgl. Kap. 3).

Im Zuge der dritten industriellen Revolution nimmt die Bedeutung dieser elektronischen neuen Medien enorm zu. Man spricht deshalb auch von einer "kommunikativen Revolution". Während für die Nutzung von Printmedien noch die Fähigkeit des Lesens erworben werden musste, zeichnen sich die neueren Multimedia-Möglichkeiten dadurch aus, dass quasi keine Vorkenntnisse nötig sind, um diese Massenmedien zu nutzen. Deshalb hat es zu Beginn der Einführung des Fernsehens auch euphorische Stimmen gegeben. Die Euphorie verflog bald und die Kritik an der dominanten Rolle des Fernsehens im heutigen Lebensalltag nahm zu. So warnte Neil Postman vor einem "Verschwinden der Kindheit" (1983) und fürchtete: "Wir amüsieren uns zu Tode" (1988). Seine Grundthese lautete: Mit dem Fernsehen ist Kindern wie auch Erwachsenen - ohne schulische Vorkenntnisse wie Lesen o.ä. - der Zugang zu einem Bild von der Welt möglich. Es besteht dadurch die Chance, schnell und einfach auf ein großes Wissensrepertoire, wie es das Fernsehen vermittelt, zuzugreifen. Es besteht aber auch die Gefahr, dass diese Masse an Information den Einzelnen überfordert. Waren im Mittelalter die wenigen Bücher in Klosterbibliotheken verschlossen und wurden nur unter Kontrolle einzelnen geöffnet, so zeichnen sich die heutigen Massenmedien dadurch aus, dass sie quasi jedermann zur Verfügung stehen. Quer durch alle Altersgruppen und über alle Schichten hinweg steht das Fernsehen allen gleichermaßen zur Verfügung (vgl. Postman 1983).

Dennoch wächst die Gefahr, dass die soziale Differenzierung im Sinne eines "knowledge gap" noch weiter zunimmt (vgl. Stoll 1996, Opaschowski 1999). Man kann keinesfalls von einer Überwindung der sozialen Gegensätze und einer neuen Gleichheit sprechen. Eine rezeptive Mediennutzung wird zwar einen immer größeren Raum im Leben der Menschen einnehmen, aber eine kritische Mediennutzung oder eine gar selbst gestaltende Medientätigkeit kann nur von wenigen realisiert werden (vgl. Kap. 2.4). Auf diesem Hintergrund kommt es auch zu dem wachsenden Phänomen einer Inkompentenz der aktiven Computer-Nutzung, der sogenannten mangelnden "computer-literacy".

Die neuen Medien verändern insbesondere auch den Freizeitbereich. Das klassische Medium Fernsehen ist schon heute für alte Menschen und viele jüngere Kinder die wichtigste Freizeitbeschäftigung. Mit der weiteren Ausweitung des Programmangebots im Zuge der Digitalisierung der Kabelnetze könnte mit zahlreichen Spartenprogrammen eine weitere Veränderung der Mediennutzung eintreten. Schon heute zeichnet sich ab, dass Jugendliche weniger fernsehen aber dafür mehr am Computer sitzen. Auch hier zeigen sich große Unterschiede in der Art der Mediennutzung. Während viele Kinder und alte Menschen nur zu einer rezeptiven Mediennutzung in der Lage sind, entwickeln zunehmend eine Reihe von Jugendlichen Fähigkeiten der eigenen aktiven und kreativen Mediengestaltung.

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