Matthias Petzold

Erziehungswissenschaftliches Institut

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Psychologische Aspekte der Online-Kommunikation



Vortrag auf der Tagung "Hilfe auf den ersten Click", Köln, 8.11.2002


Gliederung

1. Grundlagen der Kommunikation

2. Kanalreduktionstheorie

3. Text im Internet  als Oraliteralität

4. Kompensationsmöglichkeiten

5. Face-To-Face- versus Internet-Kommunikation

6. neue Möglichkeiten im Internet

7. Konsequenzen für Beratung via Internet



1. Grundlagen der Kommunikation


Gemeinhin nimmt man an, dass Sprache dazu da ist, eine bestimmte Nachricht zu übermitteln. Die Sprache ist in diesem Sinne ein Medium der Kommunikation. Bereits zu Anfang des letzten Jahrhunderts wurde in diesem Sinne Kommunikation als linearer Prozess verstanden. In dem Modell von Shannon und Weaver wird eine bestimmte Information von einem Übermittler im Prozess der Kommunikation weitergegeben, wobei es allerdings auch zu Störungen kommen kann. Diese lineare Modell der ist stark technizistisch geprägt und sieht nur punktuelle Störungen. Dass dabei unterschiedlichste Ebenen der Sprach zu berücksichtigen sind, wurde erst später deutlich. Nach Grimm kann man Sprache als aus einzelnen Kompenenten bestehend ansehen, den jeweils andere Funktionen zukommen und über die jeweils anderes Wissen erworben werden kann (vgl. Tab. 1).

Tab. 1: Komponenten der Sprache 

Komponenten

Funktion

erworbenes Wissen

suprasegmentale

Komponente

Intonationskultur

Betonung

rhythmische Gestaltung

prosodische Komponente

Phonologie

Morphologie

Syntax

Lexikon

Semantik

Organisation von Sprachlauten

Wortbildung

Satzbildung

Wortbedeutung

Satzbedeutung

linguistische Komponente

Sprechakte

Diskurse

sprachliches Handeln

Kohärenz der Konversation

pragmatische Komponente



Diese in den allgemeinen Sprachwissenschaften gewonnene Differenzierung reicht aber für ein Verständnis des Kommunikationsprozesses nicht aus. Ein erstes psychologisches Modell der Kommunikation wurde zu Beginn dieses Jahrhunderts von Karl Bühler entworfen. Er erläuterte, dass nicht nur das sprachliche Symbol eine Darstellungsfunktion hat, sondern auch beim Sender die spezielle Ausruckdrucksfunktion und beim Empfänger eine dort ankommende Appellfunktion Kommunikation wesentlich prägen (vgl. Abb. 1) .  


Abb. 1: Kommunikationsmodell von Karl Bühler


Bühlers Unterscheidung war die Basis für spätere interaktive Modelle der Kommunikation. Bahnbrechend sind hier die aus sozialpsychologischer Sicht entstandenen Arbeiten von Paul Watzlawick. Er betonte, dass Kommunikation ganz besondere Eigenarten hat, die aus der besonderer Qualität wechselseitiger Interaktion herrühren. Diese Sicht ist sehr gut in den fünf Axiomen von Watzlawick zusammen gefasst:

1. Man kann nicht nicht kommunizieren. Auch Schweigen und Nichthandeln haben Mitteilungscharakter.

2. Jede Kommunikation hat einen Inhaltsaspekt (Informationen, Daten, Fakten) und einen  Beziehungsaspekt (die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Sender und Empfänger). Auf der "sachlichen Ebene werden also die Inhalte mitgeteilt, auf der "Beziehungs-Ebene wird kommunizieren. wie Inhalte aufzufassen sind.

3. Menschliche Kommunikation ist nicht in Kausalketten auflösbar. Niemand kann genau angeben wer beispielsweise bei einem Streit wirklich angefangen hat. Anfänge werden nur subjektiv gesetzt, als sogenannte "Interpunktionen".

4. Es gibt eine digitale und eine analoge Kommunikation. Die digitale Kommunikation bezieht sich auf Worte und Sätze, die bestimmten Objekten zugeordnet sind. Diese Sprache ist logisch, abstrakt und repräsentiert den lnhaltsaspekt. Die digitale Sprache vermittelt in erster Linie Informationen. Sie bietet keine Hinweise dafür, wie diese Information bewertet und interpretiert werden soll. Der Extremfall einer digitalen Kommunikation: ein sprechender Computer. Die analoge Kommunikation hat eine viel direktere, engere Beziehung zu den Objekten, die sie repräsentiert. Sie basiert auf archaischen Kommunikationsformen und besitzt daher eine allgemeinere Gültigkeit und Verbreitung als die viel jüngere digitale Kommunikation. Analoge Kommunikation bezieht sich nicht auf Dinge (wie die digitale [Image] Kommunikation), sondern auf die Beziehung zwischen den Dingen (oder Menschen).

5. Kommunikation kann "symmetrisch" oder "komplementär" erfolgen: Man muss als Teilnehmer und Empfänger von Kommunikation ständig zwischen den beiden "Sprachen" übersetzen und rückübersetzen. Besonders die analoge Kommunikation birgt zahlreiche Fehlermöglichkeiten. Empfindungen werden in analoger Sprache ausgedrückt, weil sie sich der logischen digitalen Kommunikation entziehen. Hier liegt der Kernpunkt für das Entstehen von Störungen bei zwischenmenschlichen Beziehungen.


Diese Erkenntnisse von Bühler und Watzlawick sind in den letzten Jahren am besten weiterentwickelt und praktisch ausgeleuchtet worden durch die Bücher von Friedemann Schulz von Thun. Er betonte in seinem Kommunikationsmodell, dass jede Kommunikation immer vier Seiten hat. Jede Nachricht (Information, Kommunikation) beinhaltet neben der Inhalts- und Beziehungsseite noch zwei weitere wichtige Aspekte, die Selbstoffenbarung und den Appell:

1. Der Sachinhalt

Zunächst beinhaltet eine Nachricht eine Sachinformation (Darstellung von Sachverhalten). Dies ist der auf ein Sachziel bezogene Austausch von Informationen und Argumenten, das Abwägen und Entscheiden.

2. Die Selbstoffenbarung

In jeder Nachricht stecken nicht nur Informationen über die mitgeteilten Sachinhalte, sondern auch Informationen über die Person, die spricht. Mit dem Begriff Selbstoffenbarung soll sowohl die gewollte Selbstdarstellung als auch die unfreiwillige Selbstenthüllung eingeschlossen werden.

3. Die Beziehung

Aus jeder Nachricht geht hervor, wie der Sender zum Empfänger steht, was er von ihm hält. Oft zeigt sich dies in der gewählten Formulierung und im Tonfall und anderen nicht-sprachlichen Begleitsignalen. Für diese Seite der Nachricht ist der Empfänger besonders empfindlich; denn hier fühlt er sich als Person in bestimmter Weise behandelt (oder mißhandelt).

4. Der Appell

Es wird kaum etwas nur so gesagt fast alle Nachrichten haben den Zweck oder die tatsächliche Wirkung, auf den anderen Einfluß zu nehmen. Der Appell-Aspekt ist vom Beziehungsaspekt zu unterscheiden. Denn den gleichen Appell kann man ganz verschieden senden: der Empfänger kann sich vollwertig oder herabsetzend behandelt fühlen.


Da alle vier Seiten immer gleichzeitig im Spiele sind, muß der "kommunikationsfähige Sender" sie sozusagen alle beherrschen. Einseitige Beherrschung stiftet Kommunikationsstörungen. So nützt es z. B. wenig, sachlich recht zu haben, wenn man gleichzeitig auf der Beziehungsseite Unheil stiftet. Betrachtet man die vier Seiten der Nachricht aus der Sicht des Gegenübers, so ist, je nachdem auf welcher Seite er/sie hört, seine/ihre Empfangstätigkeit eine andere. Kommunikation ist also immer wechselnd, interaktive, eine Nachricht kann nie nur linear von dem einen (Sender) zum anderen (Empfänger) gehen, sondern erhält ihre Bedeutung erst konstruktiv in diesem interaktiven Prozess


Diese grundlegenden Erkenntnisse gelten auch für die im Internet laufenden Kommunikationsprozesse. Dabei können wir unterscheiden:
- Forum/Newsgroup
- E-Mail
- Gruppen-Chat
- Privat-Chat
- Videokonferenz
- Cyberspace.

Während die ersten vier Formen hauptsächlich textbasiert sind, gestaltet sich Kommunikation in Videokonferenzen multimedial (zweidimensional audio-visuell) während in technisch noch wenig realisierten virtuellen Realitäten nahezu alle Dimensionen und Wahrnehmungskanäle aktiviert werden können. Zurzeit beschränkt sich aber fast die gesamte Internet-Kommunikation (noch) auf textbasierte Formen, auf die ich mich daher im folgenden beschränken werde.

2. Kanalreduktionstheorie


Die Kanalreduktionstheorie versucht zu belegen, dass durch die technisch notwendige Beschränkung  des Internets eine Verarmung im Kommunikationsprozess nicht zu vermeiden ist. In mehreren Untersuchungen wurde empirisch belegt, dass die mediale Reichhaltigkeit von Individualmedium umso stärker abnimmt, je mehr sie auf Text allein basiert (vgl. Tab. 2)


Tab 2: Mediale Reichhaltigkeit von Individualmedium (Ranglistenvergleich)

 

Face-to-Face                                     4,4 (0,9)

Telefon                                               3,8 (0,8)

Handschriftlicher Text                         3,6 (0,9)

E-Mail                                               3,5 (0,9)

Maschinengeschriebener Text              3,3 (1,1)

Numerischer Computerdruck               2,5 (1,3)


Die Kanalreduktionstheorie betont, dass Computer-vermittelte-Kommunikation basiert auf Text und unterscheidet sich grundlegend von Face-To-Face-Kommunikation. Daher wird behauptet, dass textbasierte Internet-Kommunikation zur einer gefährlichen Entwicklung führt, dabei werden genannt:
- Ent-Sinnlichung
- Ent-Emotionalisierung
- Ent-Kontextualisierung
- Ent-Menschlichung
- Ent-Räumlichung
- Ent-Zeitlichung
- Ent-Wirklichung

Wenn man sich aber die Ergebnisse dieser Forschungen der Kanalreduktionstheorie genauer ansieht, dann wird man nur den Schluss ziehen können, dass Menschen für jeweils andere kommunikative Aufgaben jeweils verschiedene Medien bevorzugen. Dies zeigt die folgende Tabelle (zit. nach Döring, 2002). Die Wahl eines weniger gut geeigneten Mediums führt dabei zu Überkomplikation oder Übersimplifizierung. Es ist daher sehr wichtig zu betonen, dass für bestimmte Aufgaben "kanalreduzierte" Medien besser geeignet sind als reale Face-To-Face-Kontakte.


Tab. 3: Welches Medium ist für welche Kommunikationsaufgabe geeignet?

Media

Appropriateness Rangplätze

Face-to-Face

Telefon

E-Mail

1

kennenlernen

Fragen stellen

informieren

2

Fragen stellen

in Verbindung bleiben

Fragen stellen

3

streiten

schnell informieren

in Verbindung bleiben

4

verhandeln

Informieren

schnell informieren

5

vertraulich

informieren entscheiden

neue Ideen finden

6

entscheiden

Streiten

entscheiden

7

neue Ideen finden

Verhandeln

streiten

8

informieren

neue Ideen finden

vertraulich informieren

9

in Verbindung bleiben

Kennenlernen

verhandeln

10

schnell informieren

vertraulich informieren

kennenlernen

Die Kanalreduktionstheorie wird häufig zitiert, um die Mangelhaftigkeit von Internet-Kommunikation zu belegen. Deutlich wurde aber durch diese Forschungen, dass spezifisch beschränkte Medien in besonderen Situationen besser zur effektiven Kommunikation geeignet sind.



3. Text im Internet als Oraliteralität


Die textbasierte Kommunikation im Alltag wurde nicht erst mit dem Internet erfunden, sondern ist schon viel älter. Vielmehr handelt es sich um eine andere Kommunikation, wie es schon immer verschiedene Formen der Kommunikation gegeben hat, z.B. Zettelchen-schieben in der Schulklasse: "Das Weitergeben von Zetteln oder Briefchen 'funktioniert' eben nicht deshalb so gut, weil das Face-To-Face-Gespräch durch soziale Informationsverarbeitung möglichst 'naturgetreu' nachgestellt wird, sondern, eben weil es sich unterscheidet - und dieser Unterschied (spannungsvolle Verzögerung, Herstellen eines symbolischen Objekts) im spezifischen Situationskontext gerade das Gegenteil eines Defizits darstellt" (Döring 2002).  

Mit dem Internet (und dem Mobiltelefon per SMS) hat diese Form textbasierter Kommunikation aber einen enormen Aufschwung erfahren. Insbesondere ist jetzt zeit-synchrone Kommunikation realisierbar. Im Gruppen-Chat des Internet ist dadurch eine besondere Form des sequentiellen Dialogs entstanden. Dies soll an einem Ausschnitt demonstriert werden:
    1     (SPOOKY) Irgendwie ist jetzt an mir was vorbeigeschossen  
    2     (Findalf) Hausdrache, nö, und ja, er ist scheiß langsam!
    3     (Arktikus) GFi: *ggg*  hinm der aiuch  auff jden Fall zu KArneval *s*
    4     desertstorm betritt den Raum.
    5     ruebennase langweilt sich immer noch
    6     (GFi) Karneval in Herne? Har..
    7     (SPOOKY) Hallo ruebennase, wieso langweilst du dich ?
    8     (Hausdrache) Hat jemand ne Ahnung, wie ich CarpeDiem per Mail erreiche??
    9     (Arktikus) SPOOKY: so froh, daß Du ein Hausgesit bist und kein menschliches Wesen .... sonst wäre das wohl noch insAuge gegangen..:‑)
   10     (Arktikus) sei froh..solte es heissen
   11     (Findalf) spooky, aha und was war das? sah es aus wie text?*g*
   12      (ruebennase) spooky, weil keiner mit mir chattet

Dieser Zyklus aus 12 Zeilen wird nur verständlich wenn wir ihn in seine drei Bestandteile zerlegen:

Im ersten Strang kommunizieren Spooky, Artikus & Findalf:
    1     (SPOOKY) Irgendwie ist jetzt an mir was vorbeigeschossen  
(...)    
    9     (Arktikus) SPOOKY: so froh, daß Du ein Hausgesit bist und kein menschliches Wesen .... sonst wäre das wohl noch insAuge gegangen..:-)
   10     (Arktikus) sei froh..solte es heissen
   11     (Findalf) spooky, aha und was war das? sah es aus wie text?*g*

Im zweiten Strang finden wir einen Nebenprozess zwischen Ruebennase und Spooky:
    5     ruebennase langweilt sich immer noch
    7     (SPOOKY) Hallo ruebennase, wieso langweilst du dich ?
        (...)
   12      (ruebennase) spooky, weil keiner mit mir chattet

Im dritten Strang geht es ums Thema „Karneval“:
3         (Arktikus) GFi: *ggg* hinm der aiuch auff jden Fall zu KArneval *s*
(...)
6         (GFi) Karneval in Herne? Har...

Zu beachten ist dabei auch, dass die Teilnehmer sehr unterschiedlich aktiv sind, Spooky sogar aktiv in zwei Stränge verwickelt ist.

4. Kompensationsmöglichkeiten


Das Chat-Beispiel belegt auch, dass der Mangel der Beschränkung auf reinen Text von vielen Usern aktiv aufgehoben wird, indem Emoticons eingesetzt werden (z.B. *g* *s* :-)  ). Diese Kompensationen können von erfahrenen User sehr weitgehend eingesetzt werden ( wie Döring betont, vgl. Tab. 4)

Tab. 4: Kompensationsmöglichkeiten textbasierter Restriktionen

Face-to-Face-Kommunikation

Computervermittelte Kommunikation

1. Gesprächsinhalt

1. Gesprächsinhalt


2. nonverbale Eindrücke

2. nonverbale Eindrücke

Substitute

Auditiv

auditiv

Soundwörter/Emoticons

Visuell

visuell

Aktionswörter/Emoticons

Olfaktorisch

olfaktorisch

(Aktionswörter/Emoticons)

Gustatorisch

gustatorisch

Taktil

Taktil



5. Face-To-Face- versus Internet-Kommunikation


Es ist wichtig zu erkennen, dass auch Face-To-Face-Kommunikation Restriktionen unterwofen sind:
-    alle Gesprächsteilnehmer sind immer ohne Zeitverzug voneinander abhängig
-    es kann/darf nur einer sprechen, einer dominiert immer
-    aktiver Sprecher hat auch Einfluss, wer als nächstes sprechen darf
-    die Redezeit ist ungleich/ungerecht verteilt
-    man kann es sich kaum leisten eine Pause zu machen
-    sehr vielfältige/komplexe Stimuli für Übergänge
-    man kann nur die  vorhandene Zuhörerschaft erreichen
-    nächste Redner sind  nur  physisch Vorhandene
-    es fehlt an Anonymität
-    man muss sich auf vorherige Beiträge direkt bezieht

Wenn man diese Aspekte anerkennt, dann muss man einräumen, dass eine Kanalreduktion
in bestimmten Situationen durchaus als Vorteil eingeschätzt werden muss. Nicola Döring geht sogar noch weiter und betont, dass durch Kanalreduktion Phantasie, Kreativität und Vorstellungsvermögen stärker gefordert werden. "Durch aktive Imagination, die durch bewusste und unbewusste Informationsfilterung und Informationsgewinnung auf Seiten des Rezipienten geprägt ist, verbindet sich mit einer Reduktion der Sinneskanäle oftmals eher eine Steigerung als eine Verarmung des Empfindens".
"Die Aussicht auf eine längere Kommunikationsbeziehung und das Vorhandensein positiver Erwartungshaltungen gegenüber Kommunikationspartnern, die wir noch nicht kennen, sorgen für die Entstehung eines besonders positiven Eindrucks, der im Face-to-Face-Kontext durch dissonante Nebensächlichkeiten womöglich getrübt wäre. Diese positive Erwartungshaltung und damit einhergehende Freundlichkeit wird vom Gegenüber wiederum mit entsprechend entgegenkommenden Reaktionen beantwortet, was die positive Imagination bestätigt. Unsere Imagination kann im Zuge computervermittelter Wahrnehmung anderer Personen die soziale Wirklichkeit also unter bestimmten Bedingungen produktiv aufwerten. Hyperpersonale Interaktionen lassen sich in der Praxis (z.B. Tele-Kooperation, Fernlernen) gerade dann fruchtbar einsetzen, wenn ein Face-to-Face-Treffen gar nicht intendiert ist" (Döring 2002)


Weitere Vorteile der Computer-vermittelten Kommunikation sind Aspekte die sich aus der Nivellierung und Anonymität ergeben: Soziale Hemmungen, konkrete Hürden, Privilegien und  Kontrollen fallen weg. Weder die imposante Gestalt, noch die laute Stimme, der Altersvorsprung oder die elegante Kleidung schaffen einen Kommunikationsvorteil.

Durch die Enträumlichung und Anonymität wird eine Enthemmung begünstigt: dies fördert  verstärkte Offenheit, Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Partizipation und Egalität. Dennoch ist hier kritische Reflektion gefragt. Statt pauschal davon auszugehen, dass sich Status-Unterschiede nivellieren, ist situationsspezifisch zu prüfen, ob und wie sich welche netzexternen sozialen Hierarchien übertragen und inwieweit neue Status-Differenzen erst bei der Kommunikation im Internet entstehen (z.B. durch gute versus schlechte Netzkompetenz).


6. neue Möglichkeiten im Internet


Die besondere Rolle des aktiven Individuums und die verschiedenen Dimensionen des interaktiven Prozesses bei der Medienwahl werden in einen Modell der Medienwahl von Döring sehr gut herausgearbeitet (vgl. Abb. 2).


Abb. 2: Medienwahlmodell von Nicola Döring (2002)


Im Sinne dieses Modells wird die Medienwahl beeinflusst durch
- soziale Präsenz als subjektiver Eindruck
- mediale Reichhaltigkeit
- Feedback-Möglichkeiten

Aufbauend auf diesen Erkenntnissen soll nun noch genauer betrachtet werden, wann sich welche Defizite textbasierter Kommunikation negativ auswirken und wie auch textbasiert defizitlose  Kommunikation möglich ist.

Als wichtigste Bedingungen defizitärer Computer-vermittelter Kommunikation können angesehen werden:
- zu komplexe Kommunikationsaufgaben
- wenig Kompetenz, dysfunktionale Nutzungsnormen
- inkompatible, dysfunktionale Kommunikationsstile
- zu wenig Zeit, zu geringe Kompetenz und Motivation.

Es ist aber durchaus möglich, dass für bestimmte Aufgaben textbasierteKommunikatioin wesentlich effektiver ist, z.B. für
- einfache Kommunikationsaufgaben
- genug Kompetenz, funktionale Nutzungsnormen
- kompatible, funktionale Kommunikationsstile
- genug Zeit, ausreichende Kompetenz und Motivation.

Hinzu kommen neue Möglichkeiten, die durch die Annonymität des Internet erst möglich werden, insbesondere die Simulation von Identitäten. Es wird nun möglich, andere Identitäten anzunehmen, neue soziale Rollen zu entwerfen, sein Alter und Geschlecht zu verändern und die eigene sozialen Lage zu verschleiern. Das ist gerade für Jugendliche sehr interessant.
Jugendliche haben im Internet ein Instrument entdeckt, das sie bei ihrer Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung unterstützt. Gerade die vielfältigen  Kommunikationsmöglichkeiten des Internet, wie auch in vielen Computerspielen, werden von Jugendlichen - mehr unbewusst als bewusst - genutzt, um neue Rollen gefahrlos zu testen und bisher unbekannte Aspekte der eigenen Identität zu entdecken. Im virtuellen Raum des Online-Chat ergeben sich zudem sehr gute Möglichkeiten, neue Rollen zu erproben und schnell von einer Identität in eine andere zu wechseln. Das Internet bietet Jugendlichen mögliche Orientierungen in der für sie schwierigen Entwicklungsphase mit ihren körperlichen, psychischen und sozialen Unsicherheiten. Die Anonymität und die häufig auf Text eingeschränkte Kommunikation bieten Jugendlichen in ihrer Unerfahrenheit einen geschützten Raum zum Experimentieren. Man kann z.B. im Chat einerseits schnell mit anderen in synchroner Kommunikation in Austausch treten, muss sich aber nicht mit der ganzen Person einbringen (vgl. Beißwenger, 2001). Das ist für Jugendliche, die sich ihrer selbst (z.B. in der Wahrnehmung des eigenen Körpers, des Geschlechts usw.) noch unsicher sind, eine Chance.  Die auf wenige Sinneskanäle beschränkte Kommunikation via Internet ist daher gerade für Jugendliche besonders attraktiv, wobei weiterhin von Bedeutung ist (z.B. im Vergleich zum früher bei Jugendlichen beliebten CB-Funk), dass die globale Vernetzung ein riesiges Potential von Ansprechpartnern  ermöglicht. Auf der Internet-Kommunikationsschiene erfahren manche Jugendliche häufig auch mehr Anerkennung durch Gleichaltrige als in Face-To-Face-Interaktion. Internet-Kontakte erfolgen zwar nur „virtuell“, werden dann aber sehr bedeutsam, wenn entsprechende Anerkennung im Alltag fehlt. Die Neigung zu Internetsucht hängt daher mit den spezifischen Sozialisationsmerkmalen auf das Engste zusammen. Da eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben im Jugendalter die Ablösung vom Elternhaus ist, kann nicht zuletzt auch das Internet als Mittel zur Abgrenzung von der Erwachsenenwelt dienen.

Nicola Döring weist aber auch hier auf entstehende mögliche Probleme hin: "Die Dialektik dieser Situation besteht gerade darin, dass Freiheitsgrade in der Gestaltung der eigenen Selbstdarstellung einerseits einen Kontrollgewinn bedeuten können, dass man aber gleichzeitig den Simulationen der anderen ausgesetzt ist und damit vielleicht verletzbarer und täuschbarer wird (Kontrollverlust)".

Zusammenfassend sollen - gestützt auf Döring (2002) - die spezifischen Vorteile und Nachteile der textbasierten Kommunikation via Internet einander gegenüber gestellt werden. Dabei wird deutlich, dass es sowohl von der Situation, der Aufgabenstellung als auch der personalen Disposition abhängt, wann Vor- oder Nachteile überwiegen. 

 
Tab. 5: Spezifische Vor- und Nachteile der computervermittelten Kommunikation und ihre Bedingungen (nach Döring 2002)

CvK-Theorien

spezifische CvK-Vorteile

spezifische CvK-Nachteile

kritische UV

Herausfiltern

sozialer

Hinweisreize

(Medienmerkmale)

Anonymität

begünstigt durch

Enthemmung

Egalität, Intimität,

prosoziales Verhalten

Anonymität begünstigt

durch Enthemmung

antisoziales

Verhalten

soziale Normen,

Teilnehmerkreis

Digitalisierung

(Medienmerkmale)

Digitale Vervielfältigung,

Beschleunigung,

Doku­mentation von

Kommunikationspro­zessen

führt zu Kontrollgewinn und Entlastung

Digitale Vervielfäl­tigung, Beschleuni­gung, Dokumentation von Kommunikations­pro­zessen führt zu

Kontrollverlust und

Belastung

Kompetenz

Simulation und

Imagination

(mediales Kommu-

nikationsverhalten)

Textbasierte Selbstdar­stellung und Personen­wahrnehmung erlau­ben neue soziale Wirklichkeits­konstruk­tionen und machen Konstruktions­prozesse transparent

Textbasierte Selbst­darstellung und

Personenwahrnehmung begünstigen soziale

Fehleinschätzungen

und Täuschungen

Selbstdarstellungs

-Motivation,

Eindrucksbildungs

-Motivation,

Kompetenz

Soziale Identität

und

Deindividuation

(mediales Kommu-

nikationsverhalten)

Saliente personale oder soziale Identitäten werden

verstärkt erlebt und aus­gedrückt und können

Eigenständigkeit oder auch Gruppenzusammehalt unterstützen

Saliente personale oder

soziale Identitäten

werden verstärkt erlebt

und ausgedrückt und

können Konflikte und

Gruppendruck steigern

wechselseitiger

Bekanntheitsgrad

der Teilnehmer,

generelle Innen-

bzw. Außenorien­tierung

Netzkultur

(mediales Kommu-

nikationsverhalten)

Kulturspezifische

Ausdrucksformen

fördern soziale

Integration

Kulturspezifische

Ausdrucksformen

fördern soziale

Isolation

Identifikation mit

Netzkultur

Internet-Sprache

(mediales Kommu-

nikationsverhalten)

Netzsprachliche Stilmit­tel fördern den kreativen,

differenzierten und

sozial verbindenden

Umgang mit Schrift­sprache

Netzsprachliche

Stilmittel fördern

Verunsicherung,

Missverständnisse und

Manipulation im

zwischenmenschlichen

Austausch

Sprachkompetenz


 

7. Konsequenzen für Beratung via Internet


Die Vorteile der textbasierten Kommunikation können in der Berating via Internet sehr gut genutzt werden. Dazu sollen im folgenden kurz mögliche Konsequenzen für die Beratung angedeutet werden:
-  Anonymität + Freiwilligkeit nutzen!
-  Ungebundenheit (Zeit/Ort)
-  Professionalität der Berater
-  besondere Möglichkeiten gezielt nutzen (Rollenspiel etc.)
-  spezielle Qualifikation absichern
-  Verzahnung mit Vor-Ort-Beratung
-  schnelle synchrone Kommunikation (braucht entsprechende Ressourcen).


weiterführende Literatur:

Beißwenger; M. (Hrsg.) (2001). Chat-Kommunikation. Stuttgart: ibidem.
Döring, Nicola (2002). Sozialpsychologie des Internet (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Heller, K. (2002).  Psychosoziale Beratung im Internet. kommunikation@gesellschaft, Jg. 3, 2002 (Beitrag 1) 1 www.uni-frankfurt.de /fb03/K.G/B1_2002_Heller.pdf
Janssen, L. (Hrsg.) (1998). Auf der virtuellen Couch. Selbsthilfe, Beratung und Therapie im Internet. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Petzold, M. (2000). Die Multimedia-Familie. Opladen: Leske & Budrich.
Vitouch, P. (Hrsg.) (2001). Psychologie des Internet. Wien: Facultas-WUV


Prof. Matthias Petzold
Erziehungswissenschaftliches Institut
Heirnich-Heine-Universität Düsseldorf
Universitätsstr. 1
40225 Düsseldorf
E-Mail M.Petzold@uni-koeln.de
www.mediengutachten.de