Tab. 1: Komponenten der Sprache
Komponenten |
Funktion |
erworbenes Wissen |
suprasegmentale Komponente |
Intonationskultur Betonung rhythmische Gestaltung |
prosodische Komponente |
Phonologie Morphologie Syntax Lexikon Semantik |
Organisation von Sprachlauten Wortbildung Satzbildung Wortbedeutung Satzbedeutung |
linguistische Komponente |
Sprechakte Diskurse |
sprachliches Handeln Kohärenz der Konversation |
pragmatische Komponente |
Diese in den allgemeinen Sprachwissenschaften gewonnene Differenzierung
reicht aber für ein Verständnis des Kommunikationsprozesses
nicht aus. Ein erstes psychologisches Modell der Kommunikation wurde zu
Beginn dieses Jahrhunderts von Karl Bühler entworfen. Er
erläuterte, dass nicht nur das sprachliche Symbol eine
Darstellungsfunktion hat, sondern auch beim Sender die spezielle
Ausruckdrucksfunktion und beim Empfänger eine dort ankommende
Appellfunktion Kommunikation wesentlich prägen (vgl. Abb. 1) .
Bühlers Unterscheidung war die Basis für spätere interaktive Modelle der Kommunikation. Bahnbrechend sind hier die aus sozialpsychologischer Sicht entstandenen Arbeiten von Paul Watzlawick. Er betonte, dass Kommunikation ganz besondere Eigenarten hat, die aus der besonderer Qualität wechselseitiger Interaktion herrühren. Diese Sicht ist sehr gut in den fünf Axiomen von Watzlawick zusammen gefasst:
1. Man kann nicht nicht kommunizieren. Auch Schweigen und Nichthandeln haben Mitteilungscharakter.
2. Jede Kommunikation hat einen Inhaltsaspekt (Informationen, Daten, Fakten) und einen Beziehungsaspekt (die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Sender und Empfänger). Auf der "sachlichen Ebene werden also die Inhalte mitgeteilt, auf der "Beziehungs-Ebene wird kommunizieren. wie Inhalte aufzufassen sind.
3. Menschliche Kommunikation ist nicht in Kausalketten auflösbar. Niemand kann genau angeben wer beispielsweise bei einem Streit wirklich angefangen hat. Anfänge werden nur subjektiv gesetzt, als sogenannte "Interpunktionen".
4. Es gibt eine digitale und eine analoge Kommunikation. Die digitale Kommunikation bezieht sich auf Worte und Sätze, die bestimmten Objekten zugeordnet sind. Diese Sprache ist logisch, abstrakt und repräsentiert den lnhaltsaspekt. Die digitale Sprache vermittelt in erster Linie Informationen. Sie bietet keine Hinweise dafür, wie diese Information bewertet und interpretiert werden soll. Der Extremfall einer digitalen Kommunikation: ein sprechender Computer. Die analoge Kommunikation hat eine viel direktere, engere Beziehung zu den Objekten, die sie repräsentiert. Sie basiert auf archaischen Kommunikationsformen und besitzt daher eine allgemeinere Gültigkeit und Verbreitung als die viel jüngere digitale Kommunikation. Analoge Kommunikation bezieht sich nicht auf Dinge (wie die digitale [Image] Kommunikation), sondern auf die Beziehung zwischen den Dingen (oder Menschen).
5. Kommunikation kann "symmetrisch" oder "komplementär" erfolgen: Man muss als Teilnehmer und Empfänger von Kommunikation ständig zwischen den beiden "Sprachen" übersetzen und rückübersetzen. Besonders die analoge Kommunikation birgt zahlreiche Fehlermöglichkeiten. Empfindungen werden in analoger Sprache ausgedrückt, weil sie sich der logischen digitalen Kommunikation entziehen. Hier liegt der Kernpunkt für das Entstehen von Störungen bei zwischenmenschlichen Beziehungen.
Diese Erkenntnisse von Bühler und Watzlawick sind in den letzten
Jahren am besten weiterentwickelt und praktisch ausgeleuchtet worden
durch die Bücher von Friedemann Schulz von Thun. Er betonte in
seinem Kommunikationsmodell, dass jede Kommunikation immer vier Seiten
hat. Jede Nachricht (Information, Kommunikation) beinhaltet neben der
Inhalts- und Beziehungsseite noch zwei weitere wichtige Aspekte, die
Selbstoffenbarung und den Appell:
1. Der Sachinhalt
Zunächst beinhaltet eine Nachricht eine Sachinformation (Darstellung von Sachverhalten). Dies ist der auf ein Sachziel bezogene Austausch von Informationen und Argumenten, das Abwägen und Entscheiden.
2. Die Selbstoffenbarung
In jeder Nachricht stecken nicht nur Informationen über die mitgeteilten Sachinhalte, sondern auch Informationen über die Person, die spricht. Mit dem Begriff Selbstoffenbarung soll sowohl die gewollte Selbstdarstellung als auch die unfreiwillige Selbstenthüllung eingeschlossen werden.
3. Die Beziehung
Aus jeder Nachricht geht hervor, wie der Sender zum Empfänger steht, was er von ihm hält. Oft zeigt sich dies in der gewählten Formulierung und im Tonfall und anderen nicht-sprachlichen Begleitsignalen. Für diese Seite der Nachricht ist der Empfänger besonders empfindlich; denn hier fühlt er sich als Person in bestimmter Weise behandelt (oder mißhandelt).
4. Der Appell
Es wird kaum etwas nur so gesagt fast alle Nachrichten haben den Zweck oder die tatsächliche Wirkung, auf den anderen Einfluß zu nehmen. Der Appell-Aspekt ist vom Beziehungsaspekt zu unterscheiden. Denn den gleichen Appell kann man ganz verschieden senden: der Empfänger kann sich vollwertig oder herabsetzend behandelt fühlen.
Da alle vier Seiten immer gleichzeitig im Spiele sind, muß der
"kommunikationsfähige Sender" sie sozusagen alle beherrschen.
Einseitige Beherrschung stiftet Kommunikationsstörungen. So
nützt es z. B. wenig, sachlich recht zu haben, wenn man
gleichzeitig auf der Beziehungsseite Unheil stiftet. Betrachtet man die
vier Seiten der Nachricht aus der Sicht des Gegenübers, so ist, je
nachdem auf welcher Seite er/sie hört, seine/ihre
Empfangstätigkeit eine andere. Kommunikation ist also immer
wechselnd, interaktive, eine Nachricht kann nie nur linear von dem einen
(Sender) zum anderen (Empfänger) gehen, sondern erhält ihre
Bedeutung erst konstruktiv in diesem interaktiven Prozess
Diese grundlegenden Erkenntnisse gelten auch für die im Internet
laufenden Kommunikationsprozesse. Dabei können wir unterscheiden:
- Forum/Newsgroup
- E-Mail
- Gruppen-Chat
- Privat-Chat
- Videokonferenz
- Cyberspace.
Während die ersten vier Formen hauptsächlich textbasiert
sind, gestaltet sich Kommunikation in Videokonferenzen multimedial
(zweidimensional audio-visuell) während in technisch noch wenig
realisierten virtuellen Realitäten nahezu alle Dimensionen und
Wahrnehmungskanäle aktiviert werden können. Zurzeit
beschränkt sich aber fast die gesamte Internet-Kommunikation (noch)
auf textbasierte Formen, auf die ich mich daher im folgenden
beschränken werde.
Die Kanalreduktionstheorie versucht zu belegen, dass durch die technisch notwendige Beschränkung des Internets eine Verarmung im Kommunikationsprozess nicht zu vermeiden ist. In mehreren Untersuchungen wurde empirisch belegt, dass die mediale Reichhaltigkeit von Individualmedium umso stärker abnimmt, je mehr sie auf Text allein basiert (vgl. Tab. 2)
Tab 2: Mediale
Reichhaltigkeit von Individualmedium (Ranglistenvergleich)
|
Face-to-Face 4,4 (0,9) |
Telefon 3,8 (0,8) |
Handschriftlicher Text 3,6 (0,9) |
E-Mail 3,5 (0,9) |
Maschinengeschriebener Text 3,3 (1,1) |
Numerischer Computerdruck 2,5 (1,3) |
Die Kanalreduktionstheorie betont, dass
Computer-vermittelte-Kommunikation basiert auf Text und unterscheidet
sich grundlegend von Face-To-Face-Kommunikation. Daher wird behauptet,
dass textbasierte Internet-Kommunikation zur einer gefährlichen
Entwicklung führt, dabei werden genannt:
- Ent-Sinnlichung
- Ent-Emotionalisierung
- Ent-Kontextualisierung
- Ent-Menschlichung
- Ent-Räumlichung
- Ent-Zeitlichung
- Ent-Wirklichung
Wenn man sich aber die Ergebnisse dieser Forschungen der
Kanalreduktionstheorie genauer ansieht, dann wird man nur den Schluss
ziehen können, dass Menschen für jeweils andere kommunikative
Aufgaben jeweils verschiedene Medien bevorzugen. Dies zeigt die folgende
Tabelle (zit. nach Döring, 2002). Die Wahl eines weniger gut
geeigneten Mediums führt dabei zu Überkomplikation oder
Übersimplifizierung. Es ist daher sehr wichtig zu betonen, dass
für bestimmte Aufgaben "kanalreduzierte" Medien besser geeignet
sind als reale Face-To-Face-Kontakte.
Tab. 3: Welches
Medium ist für welche Kommunikationsaufgabe geeignet?
Media Appropriateness Rangplätze |
Face-to-Face |
Telefon |
|
1 |
kennenlernen |
Fragen stellen |
informieren |
2 |
Fragen stellen |
in Verbindung bleiben |
Fragen stellen |
3 |
streiten |
schnell informieren |
in Verbindung bleiben |
4 |
verhandeln |
Informieren |
schnell informieren |
5 |
vertraulich |
informieren entscheiden |
neue Ideen finden |
6 |
entscheiden |
Streiten |
entscheiden |
7 |
neue Ideen finden |
Verhandeln |
streiten |
8 |
informieren |
neue Ideen finden |
vertraulich informieren |
9 |
in Verbindung bleiben |
Kennenlernen |
verhandeln |
10 |
schnell informieren |
vertraulich informieren |
kennenlernen |
Die
Kanalreduktionstheorie wird häufig zitiert, um die Mangelhaftigkeit
von Internet-Kommunikation zu belegen. Deutlich wurde aber durch diese
Forschungen, dass spezifisch beschränkte Medien in besonderen
Situationen besser zur effektiven Kommunikation geeignet sind.
Die textbasierte Kommunikation im Alltag wurde nicht erst mit dem
Internet erfunden, sondern ist schon viel älter. Vielmehr handelt
es sich um eine andere Kommunikation, wie es schon immer verschiedene
Formen der Kommunikation gegeben hat, z.B. Zettelchen-schieben in der
Schulklasse: "Das Weitergeben von Zetteln oder Briefchen 'funktioniert'
eben nicht deshalb so gut, weil das Face-To-Face-Gespräch durch
soziale Informationsverarbeitung möglichst 'naturgetreu'
nachgestellt wird, sondern, eben weil es sich unterscheidet - und dieser
Unterschied (spannungsvolle Verzögerung, Herstellen eines
symbolischen Objekts) im spezifischen Situationskontext gerade das
Gegenteil eines Defizits darstellt" (Döring 2002).
Mit dem Internet (und dem Mobiltelefon per SMS) hat diese Form
textbasierter Kommunikation aber einen enormen Aufschwung erfahren.
Insbesondere ist jetzt zeit-synchrone Kommunikation realisierbar. Im
Gruppen-Chat des Internet ist dadurch eine besondere Form des
sequentiellen Dialogs entstanden. Dies soll an einem Ausschnitt
demonstriert werden:
1 (SPOOKY) Irgendwie ist jetzt an
mir was vorbeigeschossen
2 (Findalf) Hausdrache, nö,
und ja, er ist scheiß langsam!
3 (Arktikus) GFi: *ggg*
hinm der aiuch auff jden Fall zu KArneval *s*
4 desertstorm betritt den Raum.
5 ruebennase langweilt sich immer
noch
6 (GFi) Karneval in Herne? Har..
7 (SPOOKY) Hallo ruebennase,
wieso langweilst du dich ?
8 (Hausdrache) Hat jemand ne
Ahnung, wie ich CarpeDiem per Mail erreiche??
9 (Arktikus) SPOOKY: so froh,
daß Du ein Hausgesit bist und kein menschliches Wesen .... sonst
wäre das wohl noch insAuge gegangen..:‑)
10 (Arktikus) sei froh..solte es heissen
11 (Findalf) spooky, aha und was war
das? sah es aus wie text?*g*
12 (ruebennase) spooky, weil
keiner mit mir chattet
Dieser Zyklus aus 12 Zeilen wird nur verständlich wenn wir ihn in
seine drei Bestandteile zerlegen:
Im ersten Strang kommunizieren Spooky, Artikus & Findalf:
1 (SPOOKY) Irgendwie ist jetzt an
mir was vorbeigeschossen
(...)
9 (Arktikus) SPOOKY: so froh,
daß Du ein Hausgesit bist und kein menschliches Wesen .... sonst
wäre das wohl noch insAuge gegangen..:-)
10 (Arktikus) sei froh..solte es heissen
11 (Findalf) spooky, aha und was war
das? sah es aus wie text?*g*
Im zweiten Strang finden wir einen Nebenprozess zwischen Ruebennase und
Spooky:
5 ruebennase langweilt sich immer
noch
7 (SPOOKY) Hallo ruebennase,
wieso langweilst du dich ?
(...)
12 (ruebennase) spooky, weil
keiner mit mir chattet
Im dritten Strang geht es ums Thema „Karneval“:
3 (Arktikus) GFi: *ggg* hinm der
aiuch auff jden Fall zu KArneval *s*
(...)
6 (GFi) Karneval in Herne? Har...
Zu beachten ist dabei auch, dass die Teilnehmer sehr unterschiedlich
aktiv sind, Spooky sogar aktiv in zwei Stränge verwickelt ist.
Das Chat-Beispiel belegt auch, dass der Mangel der Beschränkung
auf reinen Text von vielen Usern aktiv aufgehoben wird, indem Emoticons
eingesetzt werden (z.B. *g* *s* :-) ). Diese Kompensationen
können von erfahrenen User sehr weitgehend eingesetzt werden ( wie
Döring betont, vgl. Tab. 4)
Tab. 4:
Kompensationsmöglichkeiten textbasierter Restriktionen
Face-to-Face-Kommunikation |
Computervermittelte Kommunikation |
|
1. Gesprächsinhalt |
1. Gesprächsinhalt |
|
2. nonverbale Eindrücke |
2. nonverbale Eindrücke |
Substitute |
Auditiv |
|
Soundwörter/Emoticons |
Visuell |
|
Aktionswörter/Emoticons |
Olfaktorisch |
|
(Aktionswörter/Emoticons) |
Gustatorisch |
|
|
Taktil |
|
Es ist wichtig zu erkennen, dass auch Face-To-Face-Kommunikation
Restriktionen unterwofen sind:
- alle Gesprächsteilnehmer sind immer ohne
Zeitverzug voneinander abhängig
- es kann/darf nur einer sprechen, einer dominiert
immer
- aktiver Sprecher hat auch Einfluss, wer als
nächstes sprechen darf
- die Redezeit ist ungleich/ungerecht verteilt
- man kann es sich kaum leisten eine Pause zu machen
- sehr vielfältige/komplexe Stimuli für
Übergänge
- man kann nur die vorhandene
Zuhörerschaft erreichen
- nächste Redner sind nur physisch
Vorhandene
- es fehlt an Anonymität
- man muss sich auf vorherige Beiträge direkt
bezieht
Wenn man diese Aspekte anerkennt, dann muss man einräumen, dass
eine Kanalreduktion
in bestimmten Situationen durchaus als Vorteil eingeschätzt werden
muss. Nicola Döring geht sogar noch weiter und betont, dass durch
Kanalreduktion Phantasie, Kreativität und Vorstellungsvermögen
stärker gefordert werden. "Durch aktive Imagination, die durch
bewusste und unbewusste Informationsfilterung und Informationsgewinnung
auf Seiten des Rezipienten geprägt ist, verbindet sich mit einer
Reduktion der Sinneskanäle oftmals eher eine Steigerung als eine
Verarmung des Empfindens".
"Die Aussicht auf eine längere Kommunikationsbeziehung und das
Vorhandensein positiver Erwartungshaltungen gegenüber
Kommunikationspartnern, die wir noch nicht kennen, sorgen für die
Entstehung eines besonders positiven Eindrucks, der im
Face-to-Face-Kontext durch dissonante Nebensächlichkeiten
womöglich getrübt wäre. Diese positive Erwartungshaltung
und damit einhergehende Freundlichkeit wird vom Gegenüber wiederum
mit entsprechend entgegenkommenden Reaktionen beantwortet, was die
positive Imagination bestätigt. Unsere Imagination kann im Zuge
computervermittelter Wahrnehmung anderer Personen die soziale
Wirklichkeit also unter bestimmten Bedingungen produktiv aufwerten.
Hyperpersonale Interaktionen lassen sich in der Praxis (z.B.
Tele-Kooperation, Fernlernen) gerade dann fruchtbar einsetzen, wenn ein
Face-to-Face-Treffen gar nicht intendiert ist" (Döring 2002)
Weitere Vorteile der Computer-vermittelten Kommunikation sind Aspekte
die sich aus der Nivellierung und Anonymität ergeben: Soziale
Hemmungen, konkrete Hürden, Privilegien und Kontrollen fallen
weg. Weder die imposante Gestalt, noch die laute Stimme, der
Altersvorsprung oder die elegante Kleidung schaffen einen
Kommunikationsvorteil.
Durch die Enträumlichung und Anonymität wird eine Enthemmung
begünstigt: dies fördert verstärkte Offenheit,
Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Partizipation und Egalität. Dennoch
ist hier kritische Reflektion gefragt. Statt pauschal davon auszugehen,
dass sich Status-Unterschiede nivellieren, ist situationsspezifisch zu
prüfen, ob und wie sich welche netzexternen sozialen Hierarchien
übertragen und inwieweit neue Status-Differenzen erst bei der
Kommunikation im Internet entstehen (z.B. durch gute versus schlechte
Netzkompetenz).
Die besondere Rolle des aktiven Individuums und die verschiedenen
Dimensionen des interaktiven Prozesses bei der Medienwahl werden in
einen Modell der Medienwahl von Döring sehr gut herausgearbeitet
(vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Medienwahlmodell von Nicola Döring (2002)
Im Sinne dieses Modells wird die Medienwahl beeinflusst durch
- soziale Präsenz als subjektiver Eindruck
- mediale Reichhaltigkeit
- Feedback-Möglichkeiten
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen soll nun noch genauer betrachtet
werden, wann sich welche Defizite textbasierter Kommunikation negativ
auswirken und wie auch textbasiert defizitlose Kommunikation
möglich ist.
Als wichtigste Bedingungen defizitärer Computer-vermittelter
Kommunikation können angesehen werden:
- zu komplexe Kommunikationsaufgaben
- wenig Kompetenz, dysfunktionale Nutzungsnormen
- inkompatible, dysfunktionale Kommunikationsstile
- zu wenig Zeit, zu geringe Kompetenz und Motivation.
Es ist aber durchaus möglich, dass für bestimmte Aufgaben
textbasierteKommunikatioin wesentlich effektiver ist, z.B. für
- einfache Kommunikationsaufgaben
- genug Kompetenz, funktionale Nutzungsnormen
- kompatible, funktionale Kommunikationsstile
- genug Zeit, ausreichende Kompetenz und Motivation.
Hinzu kommen neue Möglichkeiten, die durch die Annonymität
des Internet erst möglich werden, insbesondere die Simulation von
Identitäten. Es wird nun möglich, andere Identitäten
anzunehmen, neue soziale Rollen zu entwerfen, sein Alter und Geschlecht
zu verändern und die eigene sozialen Lage zu verschleiern. Das ist
gerade für Jugendliche sehr interessant.
Jugendliche haben im Internet ein Instrument entdeckt, das sie bei
ihrer Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung
unterstützt. Gerade die vielfältigen
Kommunikationsmöglichkeiten des Internet, wie auch in vielen
Computerspielen, werden von Jugendlichen - mehr unbewusst als bewusst -
genutzt, um neue Rollen gefahrlos zu testen und bisher unbekannte
Aspekte der eigenen Identität zu entdecken. Im virtuellen Raum des
Online-Chat ergeben sich zudem sehr gute Möglichkeiten, neue Rollen
zu erproben und schnell von einer Identität in eine andere zu
wechseln. Das Internet bietet Jugendlichen mögliche Orientierungen
in der für sie schwierigen Entwicklungsphase mit ihren
körperlichen, psychischen und sozialen Unsicherheiten. Die
Anonymität und die häufig auf Text eingeschränkte
Kommunikation bieten Jugendlichen in ihrer Unerfahrenheit einen
geschützten Raum zum Experimentieren. Man kann z.B. im Chat
einerseits schnell mit anderen in synchroner Kommunikation in Austausch
treten, muss sich aber nicht mit der ganzen Person einbringen (vgl.
Beißwenger, 2001). Das ist für Jugendliche, die sich ihrer
selbst (z.B. in der Wahrnehmung des eigenen Körpers, des
Geschlechts usw.) noch unsicher sind, eine Chance. Die auf wenige
Sinneskanäle beschränkte Kommunikation via Internet ist daher
gerade für Jugendliche besonders attraktiv, wobei weiterhin von
Bedeutung ist (z.B. im Vergleich zum früher bei Jugendlichen
beliebten CB-Funk), dass die globale Vernetzung ein riesiges Potential
von Ansprechpartnern ermöglicht. Auf der
Internet-Kommunikationsschiene erfahren manche Jugendliche häufig
auch mehr Anerkennung durch Gleichaltrige als in
Face-To-Face-Interaktion. Internet-Kontakte erfolgen zwar nur
„virtuell“, werden dann aber sehr bedeutsam, wenn entsprechende
Anerkennung im Alltag fehlt. Die Neigung zu Internetsucht hängt
daher mit den spezifischen Sozialisationsmerkmalen auf das Engste
zusammen. Da eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
die Ablösung vom Elternhaus ist, kann nicht zuletzt auch das
Internet als Mittel zur Abgrenzung von der Erwachsenenwelt dienen.
Nicola Döring weist aber auch hier auf entstehende mögliche
Probleme hin: "Die Dialektik dieser Situation besteht gerade darin, dass
Freiheitsgrade in der Gestaltung der eigenen Selbstdarstellung
einerseits einen Kontrollgewinn bedeuten können, dass man aber
gleichzeitig den Simulationen der anderen ausgesetzt ist und damit
vielleicht verletzbarer und täuschbarer wird (Kontrollverlust)".
Zusammenfassend sollen - gestützt auf Döring (2002) - die
spezifischen Vorteile und Nachteile der textbasierten Kommunikation via
Internet einander gegenüber gestellt werden. Dabei wird deutlich,
dass es sowohl von der Situation, der Aufgabenstellung als auch der
personalen Disposition abhängt, wann Vor- oder Nachteile
überwiegen.
Tab. 5:
Spezifische Vor- und Nachteile der computervermittelten Kommunikation
und ihre Bedingungen (nach Döring 2002)
CvK-Theorien |
spezifische CvK-Vorteile |
spezifische CvK-Nachteile |
kritische UV |
Herausfiltern sozialer Hinweisreize (Medienmerkmale) |
Anonymität begünstigt durch Enthemmung Egalität, Intimität, prosoziales Verhalten |
Anonymität begünstigt durch Enthemmung antisoziales Verhalten |
soziale Normen, Teilnehmerkreis |
Digitalisierung (Medienmerkmale) |
Digitale Vervielfältigung, Beschleunigung, Dokumentation von Kommunikationsprozessen führt zu Kontrollgewinn und Entlastung |
Digitale Vervielfältigung, Beschleunigung, Dokumentation von Kommunikationsprozessen führt zu Kontrollverlust und Belastung |
Kompetenz |
Simulation und Imagination (mediales Kommu- nikationsverhalten) |
Textbasierte Selbstdarstellung und Personenwahrnehmung erlauben neue soziale Wirklichkeitskonstruktionen und machen Konstruktionsprozesse transparent |
Textbasierte Selbstdarstellung und Personenwahrnehmung begünstigen soziale Fehleinschätzungen und Täuschungen |
Selbstdarstellungs -Motivation, Eindrucksbildungs -Motivation, Kompetenz |
Soziale Identität und Deindividuation (mediales Kommu- nikationsverhalten) |
Saliente personale oder soziale Identitäten werden verstärkt erlebt und ausgedrückt und können Eigenständigkeit oder auch Gruppenzusammenhalt unterstützen |
Saliente personale oder soziale Identitäten werden verstärkt erlebt und ausgedrückt und können Konflikte und Gruppendruck steigern |
wechselseitiger Bekanntheitsgrad der Teilnehmer, generelle Innen- bzw. Außenorientierung |
Netzkultur (mediales Kommu- nikationsverhalten) |
Kulturspezifische Ausdrucksformen fördern soziale Integration |
Kulturspezifische Ausdrucksformen fördern soziale Isolation |
Identifikation mit Netzkultur |
Internet-Sprache (mediales Kommu- nikationsverhalten) |
Netzsprachliche Stilmittel fördern den kreativen, differenzierten und sozial verbindenden Umgang mit Schriftsprache |
Netzsprachliche Stilmittel fördern Verunsicherung, Missverständnisse und Manipulation im zwischenmenschlichen Austausch |
Sprachkompetenz |
Die Vorteile der textbasierten Kommunikation können in der
Berating via Internet sehr gut genutzt werden. Dazu sollen im folgenden
kurz mögliche Konsequenzen für die Beratung angedeutet werden:
- Anonymität + Freiwilligkeit nutzen!
- Ungebundenheit (Zeit/Ort)
- Professionalität der Berater
- besondere Möglichkeiten gezielt nutzen (Rollenspiel etc.)
- spezielle Qualifikation absichern
- Verzahnung mit Vor-Ort-Beratung
- schnelle synchrone Kommunikation (braucht entsprechende
Ressourcen).
Beißwenger; M.
(Hrsg.) (2001). Chat-Kommunikation. Stuttgart: ibidem.
Döring, Nicola (2002). Sozialpsychologie des Internet (2. Aufl.).
Göttingen: Hogrefe.
Heller, K. (2002). Psychosoziale Beratung im Internet.
kommunikation@gesellschaft, Jg. 3, 2002 (Beitrag 1) 1
www.uni-frankfurt.de /fb03/K.G/B1_2002_Heller.pdf
Janssen, L. (Hrsg.) (1998). Auf der virtuellen Couch. Selbsthilfe,
Beratung und Therapie im Internet. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Petzold, M. (2000). Die Multimedia-Familie. Opladen: Leske &
Budrich.
Vitouch, P. (Hrsg.) (2001).
Psychologie des Internet. Wien: Facultas-WUV
Prof. Matthias
Petzold
Erziehungswissenschaftliches Institut
Heirnich-Heine-Universität Düsseldorf
Universitätsstr. 1
40225
Düsseldorf
E-Mail
M.Petzold@uni-koeln.de
www.mediengutachten.de